The Slow Down Strategy – Digitalisierer hassen diese Tricks
Ingo ist Instandhalter. Er bekommt eine Nachricht dass eine Anlage ausgefallen ist. Wie? Per Telefon. Thomas nimmt seine Aufgabe als Sicherheitsbeauftrager sehr ernst. Seit dem Beginn der Pandemie macht er jeden Tag seinen Corona-Rundgang. Dokumentation? Per Papier. Tamara kümmert sich um die IT-Landschaft ihres Werks. Aber Verbesserungsprojekte gehen nur langsam voran – und kosten viel Geld. Der Schwung fehlt.
Alle drei haben das gleiche Problem: die Digitalisierung ist noch nicht wirklich bei ihnen angekommen. Branchenexperten wie die Bertelsmann-Stiftung und der ZVEI weisen lautstark darauf hin. Es reicht aber nicht, auf Missstände hinzuweisen. Es reicht auch nicht, die großen Versprechen der Industrie 4.0 zu wiederholen und auf die enormen wirtschaftlichen Potentiale der Digitalisierung hinzuweisen.
Es ist Zeit, sich mit den Ursachen zu beschäftigen. Und deren Lösung. Fünf Problemfelder sind vordringlich:
Abgekoppelte Vision
Ich meine hier nicht die Buzzword-Sammlung á la: Hololens in der Produktion, künstliche Intelligenz, Predictive Maintenance… und viele mehr. Wir kennen sie alle. Worum es geht: eine realitätsnahe Vorstellung davon, wie sich digital unterstütztes Arbeiten im konkreten betrieblichen Kontext entwickeln soll. Visionsarbeit ist Führungsaufgabe. Digitalisierung ist aber – wie jede technologische Veränderung – ein gruppendynamischer Prozess. Es braucht also nicht die vom CIO-Office entwickelte Hochglanz-Roadmap. Vielmehr muss die Organisation über Funktionen und Hierarchien hinweg ins Gespräch zu kommen und gemeinsam Lust auf die Reise in die digitale Zukunft entwickeln.
Starre IT-Systeme
Nach wie vor ist das IT-Stack der Produktion eine starre Landschaft. Geprägt von monolithischen ERP- und MES-Systeme, unter Umständen erweitert um hausgemachte Lösungen, oft von Werkstudenten oder verdienten Mitarbeitern entwickelt. In beiden Fällen sind Veränderungen schwer umsetzbar. Anpassungen sind aufwändig, erfordern teure Change Requests. Damit wird jede Dynamik der kontinuierlichen Verbesserung ausgebremst, viele gute Ideen scheitern am unmöglichen Business Case. Dies widerspricht der Logik wie hocheffiziente Werke arbeiten: ihr Lebenselixier ist die kontinuierliche Verbesserung. Everything on wheels – wie wir es aus den Leuchtturmfabriken des Lean-Management kennen – muss Einzug in die digitale Welt halten.
Fehlende Geschwindigkeit
Innovation braucht Dynamik. Denn mit der Umsetzungsgeschwindigkeit kommen Erfolgserlebnisse, wird Fortschritt spürbar. Wir Menschen denken und handeln nun mal in Wochen und Monatszeiträumen. Und je operativer eine Rolle angelegt ist, desto wichtiger ist die spürbare Weiterentwicklung in kurzen Zyklen. Es geht aber nicht nur um den Spaß an der Innovation. Auch organisatorisches Lernen erfordert Umsetzungsgeschwindigkeit – Fail fast, learn fast wie uns die Startup-Welt lehrt.
Übergangene Mitarbeiter:innen
Erfolgreiche Veränderung ist ein zutiefst menschlicher Prozess. Wer nicht Teil von Veränderungsprozessen ist, fühlt sich abgehängt – entwickelt Ängste und Widerstände. Es braucht aber alle im Unternehmen, um fundamentale Veränderungen wie den digitalen Wandel zu gestalten. Die IT-Expertin genauso wie den Shopfloor-Mitarbeiter und seine Führungskraft. Neue Technologien beinhalten Chancen aber auch Risiken. Denken wir nur an Ängste vor der künstlichen Intelligenz und was sie mit einem Arbeitsplatz macht. Mitgestaltung baut Ängste und Barrieren ab.
Mittelstands-Bashing: an der Realität vorbei
Im Jahr des zehnten Jubiläum der Industrie 4.0 liest man vielfach: der Mittelstand sei in der Digitalisierung abgehängt. Insbesondere kleine Betriebe auf dem Land tut sich mit der Digitalisierung und Industrie 4.0 besonders schwer. Großunternehmen seien die Vorreiter. Aus meiner Sicht geht das an Realität vorbei: es gibt hoch innovative digitale Vorreiter im Mittelstand, die den Nutzen agiler Methoden verinnerlicht und herausragende digitale Lösungen implementiert haben. Gleichzeitig erleben wir, wie schwer sich manche große Unternehmen tun, die Bedarfe der operativen Einheiten durch ihre oft komplexen zentralen und dezentralen Entscheidungsprozesse zu tragen – und so Monate, zum Teil Jahre in der Umsetzung verlieren. Digitaler Fortschritt mit angezogener Handbremse ist also kein Thema der Unternehmengröße, genauso wenig branchenspezifisch. Es ist eine Frage der Haltung.
Was braucht es, um einen digitalen Ruck durch die Industrie auszulösen? Es braucht ein fundamentales Umdenken. Weg von der technokratischen Sicht auf die Digitalisierung – hin zu einer menschlichen. Wir nennen das #diefünfteindustrie.
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